[ PORTRÄT ]
Chef-Sommelière // Argentinien

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Begegnung mit Paz Levinson
"Das flüssige Gedächtnis eines Ortes wird im Weinkeller aufbewahrt."
Die Geschichte von Paz Levinson ist nicht die einer langen Winzerlinie oder einer Leidenschaft, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ihre Geschichte ist ein von Neugier und Wissensdurst geprägter Werdegang, den die hektische Großstadt Buenos Aires hervorgebracht hat und der durch Erkundungen und Beobachtungen in der ganzen Welt geformt wurde.
Sie wurde mehrfach ausgezeichnet und schrieb Geschichte, als sie als erste Frau zur Executive Chef-Sommelière der Groupe Pic ernannt wurde. In dieser Position beaufsichtigt sie die Weinkarten aller Restaurants von Anne-Sophie Pic weltweit - in Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und Singapur. Bei vielen dieser Restaurants handelt es sich um Sternerestaurants der Spitzenklasse.
Heute zählt Paz zu den angesehensten Sommeliers und Sommelières der Welt. Als Sprachrohr der Vielfalt in der Welt des Weins, als Geschichtenerzählerin und leidenschaftliche Ausbilderin verkörpert sie eine sensible und engagierte Herangehensweise an ihren Beruf. Eine Begegnung.


Wie wurde Ihr Interesse an Wein geweckt?
PAZ LEVINSON
Ich stamme weder aus einer Winzerfamilie noch bin ich inmitten von Weinbergen aufgewachsen. Meine Geschichte nimmt in Buenos Aires während meines Literaturstudiums ihren Anfang. Um mein Studium zu finanzieren, arbeitete ich als Kellnerin in einem kleinen Restaurant. Dort wurde mir Wein zum ersten Mal als etwas bewusst, das mehr als nur ein Getränk ist. Ich empfand ihn als eine Sprache für sich, eine Weltkarte, eine Erzählung. Eines Tages sah ein Kollege, der später mein Mentor wurde, mein Interesse und meine Neugier und schlug mir vor, ein Weinstudium zu beginnen. Das war der Anfang von allem. Ich begriff, dass Wein die gleiche Komplexität, die gleiche Tiefe besitzt wie das, was ich in der Literatur suchte. Aber mit einem entscheidenden Unterschied: Wein lässt sich mit anderen teilen.

Was hat Sie Ihre Rolle als Executive Chef-Sommelière bei der Groupe Pic gelehrt?
PAZ LEVINSON
In dieser Position habe ich gelernt, dass Leadership nicht an der Lautstärke der Stimme gemessen wird, sondern an der Fähigkeit, das Gehör zu schärfen. Ich habe gelernt, flexibel zu sein, ohne an Präzision zu verlieren, und die Identität jedes Restaurants zu wahren und zu respektieren - denn jedes Restaurant hat seine eigene „Seele“. Ich habe auch die Fülle und den Reichtum multikultureller Teams kennengelernt, in die jeder Sommelier seinen eigenen Stil und seine eigene Sensibilität einbringt. Mit Anne-Sophie Pic teile ich die Überzeugung, dass eine Weinkarte nicht nur eine Frage der Technik ist, sondern auch eine poetische Komponente beinhaltet, eine Art, die Welt zu erzählen. Ja, ich war die erste Frau, die diese Position in einem vom Guide Michelin mit 3 Sternen ausgezeichneten Restaurant bekleidet hat. Ich bin vor allem stolz darauf, den Weg für andere geebnet zu haben, und dabei nie aufzuhören, täglich etwas Neues zu lernen.

Ich bin vor allem stolz darauf, den Weg für andere geebnet zu haben.


Was bedeutet Wein für Sie auf einer eher persönlichen Ebene?
PAZ LEVINSON
Meine Beziehung zu Wein ist außerhalb meiner beruflichen Tätigkeit von Dankbarkeit und Entdeckungen geprägt. Ich liebe es, neue Horizonte zu erkunden, und ich liebe es ebenfalls, zu Weinen zurückzukehren, die mich tief berührt haben. Ich habe eine Flasche Dom Pérignon 1998 in meinem Weinkeller, der für mich einen Wendepunkt symbolisiert: Dieser Wein ist der erste „große Wein“, den ich damals während meiner Ausbildung am Ausbildungszentrum CAVE probieren durfte. An diesem Tag habe ich begriffen, dass ein Glas Wein eine sehr emotionale Reise sein kann. Ich bewahre auch ganz sorgfältig die Flaschen auf, die mir von Winzern nach einem gemeinsamen Essen, einem Gespräch oder einem Spaziergang in den Weinbergen geschenkt wurden. Der Wert dieser Weine liegt dabei nicht in ihren Bewertungen oder Klassifizierungen, sondern in der Menschlichkeit, die sie verkörpern.


Wein ist nicht den Experten oder der Elite vorbehalten - Wein ist eine Sprache, ein verbindendes Element, Schönheit, die man teilt.

Gibt es einen Moment, der Ihnen in Erinnerung ruft, warum Sie beim Wein gerne als Vermittlerin fungieren?
PAZ LEVINSON
Da gibt es viele. Aber ich denke oft an einen Kurs, den ich in Mendoza gehalten habe. Ein junger Mann, der zuvor absolut keine Beziehung zum Wein hatte, kam am Ende des Kurses zu mir und sagte: „Ich hätte nie gedacht, dass Wein etwas für jemanden wie mich sein könnte.“ Dieser Moment hat mich umgehauen. Er hat mich daran erinnert, warum Wissensvermittlung und Wissensweitergabe für mich so wichtig sind. Weil nämlich Wein nicht das Vorrecht der Experten oder der Elite ist. Er kann ein Werkzeug sein, um ein Band zu knüpfen und Schönheit zu teilen. Und wenn ein Student beginnt, seinem eigenen Gaumen und seiner eigenen Stimme zu vertrauen, dann ist das einfach großartig.

Welchen Stellenwert hat der Weinkeller in Ihrem Leben, privat und beruflich?
PAZ LEVINSON
Der Weinkeller ist eine Art „Pflegestätte“. Da sind natürlich die technischen Aspekte - Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Rotation -, aber ein Weinkeller ist auch ein zutiefst symbolischer Ort. Das flüssige Gedächtnis eines Ortes wird im Weinkeller aufbewahrt. Bei meiner Arbeit achte ich darauf, dass jeder Weinkeller etwas ganz Wesentliches über das Restaurant erzählt: seinen Rhythmus, seine Geschichte, seine Küche. Bei mir zu Hause geht es persönlicher zu. Da stehen Flaschen, die ich von Reisen mitgebracht habe, Geschenke von Freunden, auch einige Flaschen, die ich für besondere Momente aufbewahre und wiederum andere Flaschen, die ich öffne, einfach weil auch ein gewöhnlicher Dienstag es verdient, gefeiert zu werden.

Einige Flaschen öffne ich, weil selbst ein gewöhnlicher Dienstag es verdient, gefeiert zu werden.


Wie sehen Sie die Entwicklung der Weinbauidentität Argentiniens und die Rolle des Malbec bei dieser modernen Variante des Weinbaus?
PAZ LEVINSON
Was mich heute an den Weinen aus Argentinien am meisten begeistert, ist die Freiheit. Eine neue Generation von Weinbauern ist mit Intelligenz, Respekt und einer großartigen Aufgeschlossenheit bei der Arbeit. Es gibt nicht mehr nur die eine Art, Malbec zuzubereiten - und das ist das Wunderbare daran. Malbec ist und bleibt ist unser unverwechselbarer Ausdruck, aber er ist nicht mehr so schrill. Er braucht es auch nicht mehr zu sein. Ein Flüstern genügt, ein Dialog mit anderen Regionen, mit anderen Speisen aus aller Welt. Er spielt immer noch eine wichtige Rolle, aber er steht nicht mehr allein auf der Bühne.

Gibt es in Ihrem Buch über die Malbec-Traube eine Geschichte, die die Beziehung zwischen dieser Rebsorte und Argentinien besonders verkörpert?
PAZ LEVINSON
Die Verarbeitung der Malbec-Traube in Mendoza ist eine Geschichte, die mich ganz besonders berührt. Malbec kam als eine von vielen Trauben aus Frankreich nach Argentinien und fand durch unsere Böden ein völlig neues Leben in den Händen unserer Weinbauern. In Europa fiel die Malbec-Traube in Vergessenheit und in Argentinien kommt sie wieder zu Ehren. Diese Fähigkeit, zu neuem Leben zu erwachen, sich neu zu erfinden, sagt viel über Argentinien aus, über unsere Fähigkeit, etwas, das verloren schien, wachsen und gedeihen zu lassen und aus einem Erbe etwas Eigenes zu entwickeln.

Welche argentinischen Rebsorten oder Regionen neben der Malbec-Traube würden Ihrer Meinung nach mehr internationale Anerkennung verdienen?
PAZ LEVINSON
Da gibt es so viele! Der Sémillon beispielsweise ist eine fantastische Rebsorte, die wir allmählich entdecken. Der Cabernet Franc zeigt einen herrlichen Ausdruck in Terroirs wie denen der Appellation Gualtallary. Und in Patagonien passieren fantastische Dinge rund um den Pinot Noir und den Chardonnay. Besonders ergriffen haben mich die Renaissance alter Weinberge, die eingehende Analyse der Böden und dieser kollektive Wille, eine Identität zum Ausdruck zu bringen, ohne äußere Vorbilder zu kopieren. Hier wird echte, außergewöhnlich kreative Energie freigesetzt - und für eine Sommelière ist das ein echtes Geschenk.
Artikel - Yolanda Mikkelsen
Yolanda Mikkelsen ist eine diplomierte Wine & Food Connaisseuse, die ihre tiefe Leidenschaft für Aromen ihrem multiethnischen Hintergrund und ihren Reisen durch die ganze Welt verdankt. Seit 2018 moderiert Yolanda internationale Fernsehsendungen, in denen sie die besten Weinregionen der Welt und ihre lokalen Produkte vorstellt. Sie moderiert Veranstaltungen an der Seite von angesehenen Weinproduzenten, Köchen und Sommeliers und sorgt so für unvergessliche kulinarische Erlebnisse. Yolanda hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein und die Wertschätzung für Wein und kulinarisches Wissen weltweit auf eine höhere Stufe zu heben.
Fotos von Bob Lightowler
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